Studien und frühe Berufsjahre

1872-84 Als die frühen Meiji-Reformen eine neue politische und  gesellschaftliche Ordnung schaffen, die Japans Selbstbehauptung in der Moderne gewährleisten soll, zieht die Familie Mori nach Tokyo. Hier ist der Vater zunächst für den Fürsten Kamei tätig; später eröffnet er eine eigene Praxis und übernimmt das Amt des  Bezirksarztes in einem Stadtteil der kaiserlichen Hauptstadt. Die Medizinerfamilie möchte Rintarō eine hervorragende Bildung ermöglichen und sendet ihn auf eine private Sprachschule, um die Grundlagen dafür zu legen. Hier erwirbt er gute Kenntnisse des Deutschen,  das sich mittlerweile als Sprache der medizinischen Lehre und Forschung auch in Japan etabliert hat. Im Anschluss besucht der junge Mori den propädeutischen Kurs der Medizinischen Fakultät an der Kaiserlichen Universität Tokyo, wo er von 1875 bis 1881 im Hauptkurs Medizin studiert. Nach der Approbation wirkt er an der Seite seines Vaters, um darauf in die Dienste des Heeresministeriums zu treten. Das Ministerium beordert ihn – seinem Wunsch folgend – 1883 zur Fortführung seiner Studien nach Deutschland.

Erinnerungen und Gedanken

“Ich war in einer Schule in Hongō eingeschrieben, an der Deutsch unterrichtet wurde. Da die Schule von unserem Haus in Mukōjima weit entfernt war, zog ich in das Anwesen des Nishi Amane, eines alten Bekannten der Familie, in Ogawamachi, und pendelte von dort. Samstags kehrte ich für gewöhnlich nach Mukōjima zurück. Am Sonntag hatten wir frei, und später am Tag machte ich mich wieder zum Haus der Nishis auf.”

Ōgai - Als ich vierzehn war / Watakushi ga jūshigo sai no toki (1909). Übers. H. Salomon

“Das tägliche Schulpensum machte mir nach wie vor keinerlei Schwierigkeiten. Sobald ich irgend Zeit hatte, schmökerte ich in den wie immer ausgeliehenen Büchern. Da ich allmählich rascher zu lesen imstande war, hatte ich bald so gut wie alles von Bakin bis Kyōden hinter mich gebracht.”

Ōgai - Vita sexualis (1909). Übers. S. Schaarschmidt

“Ich habe einen Freund namens Mori Rintarō. Er ist einundzwanzig Jahre alt. Wir haben zehn Jahre lang zusammen studiert und gerade erfolgreich unser Studium abgeschlossen. Mori ist von Natur aus klug und studiert gerne. Er ist sehr belesen und hat ein hervorragendes Gedächtnis. Angesichts seiner außerordentlichen Begabung verschwendet er keine Zeit mit törichten Menschen und der gegenwärtig verworrene Stand der japanischen Medizin bereitet ihm große Sorgen.”

Koike Masanao - Aus einem Empfehlungsschreiben für Mori (1881)

“Kurz nach [dem Abschluss des Studiums] trat ich meinen Dienst als Militärarzt an. Ich wurde dem Militärmedizinischen Hauptquartier zugeordnet. Ich bewegte mich auf der Stelle und versank in Akten und Dokumenten. So ging es drei lange Jahre. Doch nun mache ich mich auf die Reise. Ich kann nicht anders, als große Freude zu empfinden.”

Ōgai - Tagebuch der Überfahrt in den Westen / Kōsei nikki (1884)

“Seit dem Abschluss meines Studiums wollte ich in den Westen reisen. Die moderne Medizin stammt aus dem Westen. Ich hatte immer den Eindruck, dass die Gefahr besteht, die eigentliche Bedeutung der Schriften misszuverstehen, obwohl man die Sprache lesen und sprechen kann, wenn man das dortige Leben nicht selbst erfahren hat.”

Ōgai - Tagebuch der Überfahrt in den Westen / Kōsei nikki (1884)

Biographische Ereignisse

1872

Juli 1872:  Hashimoto Tsunatsune, künftiger Generaloberstabsarzt des Heeres (ab 1885), nimmt in Berlin ein Studium der Medizin auf. Später wechselt er nach Würzburg, wo er 1876 promoviert wird. Im folgenden Jahr kehrt er nach Japan zurück.
4. September 1872: Die Erziehungsverordnung (gakusei) wird erlassen. In der Folge wird in Japan ein grundlegendes und ein weiterführendes Bildungssystem aufgebaut.
  • Juni: Der Vater Shizuo und sein Erstgeborener begeben sich nach Tokyo. Dort kommen sie zunächst auf dem Anwesen der Kamei in Mukōjima unter.
  • Oktober: Rintarō beginnt, an der privaten Schule Shinbun Gakusha Deutsch zu lernen. Als Sprache der medizinischen Wissenschaft hat das Deutsche mittlerweile das Holländische abgelöst.
  • Da die Schule im weit entfernten Stadtteil Hongō liegt, lebt Rintarō in den folgenden vier Jahren – während der Schulzeit – im Heim seines Onkels Nishi Amane (1829–97). Der Regierungsbeamte gilt als Mitbegründer der japanischen Aufklärungsbewegung.

1873

  • Juni: Die übrigen Mitglieder der Familie Mori – Großmutter, Mutter, der Bruder Tokujirō und die Schwester Kimiko – folgen nach Tokyo.
  • November: Um den Vorbereitungskurs der Medizinischen Schule des ersten Universitätsbezirks (d.h. der Medizinischen Fakultät der späteren Kaiserlichen Universität Tokyo) besuchen zu können, gibt Rintarō vor, zwei Jahre früher geboren worden zu sein. In offiziellen Dokumenten wird 1860 fortan als Geburtsjahr verwendet.

1874

11. Februar 1874: Am Tag der mythischen Reichsgründung rufen Fukuzawa Yukichi, Nishi Amane und ihre Mitstreiter die “Gesellschaft [des Jahres] Meiji sechs” (Meiroku Sha) ins Leben, um die japanische Aufklärungsbewegung zu fördern.
Mai 1874: Die Medizinische Schule des Ersten Universitätsbezirks erhält die neue Bezeichnung “Medizinische Schule zu Tokyo” (Tōkyō Igakkō).
August 1874: Die “Medizinalverordnung” (Isei) wird erlassen, um das medizinische Bildungs­wesen aufzubauen und um die Voraussetzungen für die Niederlassung von Ärzten zu definieren.

1875

November 1875: Der deutsche Geologe Edmund Naumann (1854–1927) reist nach Japan, wo er bis 1880 an der Kaiserlichen Universität Tokyo lehrt. Während  Moris Aufenthalt in Deutsch­land wird es zu einer Debatte mit dem Geologen kommen, die in der Allgemeinen Zeitung ausgetragen wird.
Dezember 1875: Der 26jährige Internist Erwin Bälz (1849–1913), der als Assistent an der Leipziger Universität tätig ist, erhält durch Vermittlung eines japanischen Patienten einen Ruf an die Medizinische Schule zu Tokyo. Beim japanischen Gesandten in Berlin, Aoki Shūzō, unterschreibt er zunächst einen Zweijahresvertrag.
  • April: Rintarōs Vater erwirbt ein Haus in Ko’umemura, im heutigen Bezirk Sumida. Die Familie zieht um.
  • Das Familienregister (koseki) wird nun in Tokyo geführt.
  • November: Rintarō wird in die unterste Klasse des Hauptkurses an der Medizinischen Schule aufgenommen.

1876

Juni 1876: Erwin Baelz kommt in Japan an, um an der Medizinischen Schule zu Tokyo Physio­logie und Innere Medizin zu lehren.
  • Dezember: Als der Campus der Medizinischen Schule in den Stadtteil Hongō verlegt wird, zieht Rintarō in das dortige Wohnheim. Er erhält nun ein Stipendium der Regierung.

1877

Februar 1877: Die Rebellion der Samurai der Provinz Satsuma unter Saigō Takamori gegen die kaiserliche Regierung bricht aus.
Februar 1877: Die Zeitschrift Tōkyō iji shinshi, die den deutschen Nebentitel “Tōkyō Medizini­sche Wochenschrift” trägt, erscheint erstmals. Sie wird die wichtigste medizinische Fachzeit­schrift des Landes.
April 1877: Die Universität Tokyo wird gegründet; die Medizinschule wird eingegliedert und nun als Medizinische Fakultät der Universität geführt.
1. Mai 1877: Die Vorläuferorganisation des Japanischen Roten Kreuzes (Hakuai Sha) wird gegründet.
  • Rintarō studiert nun im 2. Jahr des Hauptkurses bei deutschen Professoren, unter ihnen Erwin Bälz und Wilhelm Schultze. Zu seinen Kommilitonen zählen Kako Tsurudo, dem er ein Leben lang freundschaftlich verbunden bleibt, und Koike Masanao.
  • Sein Vater wird mit der Leitung der Dienststelle des Bezirksarztes im Viertel Senjū betraut.

1878

11. Mai 1878: Mit der “Medizinischen Zeitung” (Iji shinbun) erscheint ein weiteres bedeutendes Fachperiodikum erstmals.
  • Rintarōs Vater wird Bezirksarzt im Viertel Senjū.
  • Im August beendet der Sechzehnjährige die Mitschrift einer Vorlesung des Physiologen Ernst Tiegel: “Grundriss der Myologie” (Kinniku tsūron). [Das sorgfältig redigierte Manuskript wurde 2019 wiederentdeckt und gilt als erstes “Werk”.]

1879

Die erste Kohorte der Studierenden an der Medizinischen Fakultät der Universität Tokyo schließt ihr Studium ab.
  • April: Moris zweiter jüngerer Bruder Junzaburō wird geboren.
  • Juni: Mit der Gründung des Kreises Minami-Adachi wird Rintarōs Vater von der Stadtverwaltung Tokyo zum dortigen Kreisarzt ernannt.
  • Die ganze Familie zieht in das Viertel Senjū im Bezirk Minami-Adachi um.
  • Juli: Der Vater öffnet eine private Praxis in Senjū (Kissen Dō).

1880

  • Rintarō zieht aus dem Studentenwohnheim aus und bezieht ein Zimmer in einer Pension in der Nähe der Universität.
  • Neben dem Studium beschäftigt er sich mit klassisch japanischer Dichtung (waka) sowie mit klassisch chinesischer Dichtung (kanshi) und Literatur (kanbun).
  • Der Arzt und Gelehrte Satō Genchō (1818-97), alias Ōkyo, unterstützt seine Studien der chinesischen Dichtung. Der Sohn des Gelehrten, Satō Shōju, veröffentlicht unter dem nom de plume ‘Ōgai’ Gedichte. Diesen Namen wird Rintarō später entlehnen.
  • Der sinophile Literat und Theaterreformer Yoda Gakkai sieht die chinesischen Texte durch, die Rintarō zur Übung verfasst.

1881

September 1881: In Tokyo wird die “Gesellschaft für Deutsche Studien” (Doitsu Gaku Kyōkai) gegründet. Zu den Gründungsmitgliedern zählen unter anderen Aoki Shūzō und Nishi Amane.
Oktober 1881: Die erste Ausgabe der “Zeitschrift für Wissenschaft und Literatur des Ostens” (Tōyō gakugei zasshi) erscheint.
  • Frühling: Rintarō erkrankt an einer Rippenfellentzündung.
  • Juli: Er schließt das Studium der Medizin an der Universität Tokyo im Alter von 19 Jahren als jüngster unter 28 Kommilitonen ab. Als Achtbester bleibt ihm das ersehnte Auslandsstudium als Regierungsstipendiat zunächst verwehrt.
  • Er zieht in das Familienheim in Senjū, hilft in der Praxis seines Vaters und nimmt Privatunterricht in traditioneller chinesischer Heilkunde.
  • September: Erster Beitrag in der Tageszeitung Yomiuri shinbun.
  • Dezember: Er tritt als Assistenzarzt in den Heeresdienst ein und wird dem Heereskrankenhaus in Tokyo zugeteilt. Vom Familienheim begibt er sich täglich mit einer Jinrikisha zum Dienstort.
  • Er arbeitet an einer Übersetzung des Märchens Die Karawane von Wilhelm Hauff in chinesische Verse.

1882

4. Januar 1882: Die “Kaiserlichen Weisungen an die Soldaten des Heeres und der Marine” (Riku-Kaigun gunjin chokuyu) werden erlassen.
20. März 1882: Das “Museum in Ueno” (Ueno Hakubutsukan), das spätere Kaiserliche Muse­um, eröffnet in einem Gebäude, welches der seit 1877 in Japan wirkende britische Architekt Josiah Conder entworfen hat. 
24. März 1882: Der spätere Nobelpreisträger Robert Koch (1843–1910) stellt seine Ent­deckung des Erregers der Tuberkulose vor der Berliner Physiologischen Gesellschaft vor.
  • Februar: Mori wird Assistenzarzt im Kreiswehrersatzamt des Ersten Militärbezirks.
  • Bis Ende März bereist er Tochigi, Gunma, Nagano und Niigata. Das “Tagebuch einer Reise in den Norden” (Hokuyū nichijō) entsteht in diesen Wochen. [→ Übersetzung]
  • Mai: Mori wird erneut dem Heereskrankenhaus in Tokyo und zudem dem Militärmedizinischen Hauptquartier des Heeres zugewiesen.
  • In der Allgemeinen Abteilung des Hauptquartiers widmet er sich insbesondere der Untersuchung des preußischen Militärhygienewesens.
  • Juli: Mori wird der Militärinspektion für den östlichen Landesteil zugewiesen.
  • September: Er schifft sich nach Hakodate ein und bereist in der Folge Aomori, Iwate und Niigata. Das “Zweite Tagebuch einer Reise in den Norden” (Nochi no Hokuyū nichijō) entsteht.

1883

12. April 1883: Die “Hochschule des Heeres” (Rikugun Daigakkō) wird eröffnet.
28. November 1883: Das staatliche Gästehaus “Halle des röhrenden Hirsches” (Rokumeikan) eröffnet. Hier treffen höhere Gesellschaftsschichten und Vertreter des Auslands aufeinander.
  • März: Mori legt dem Militärmedizinischen Hauptquartier ein umfangreiches Manuskript zur Heereshygiene vor, an dem er seit dem Vorjahr gearbeitet hat. Es basiert auf C. J. Pragers Standardwerk (Berlin: 1864) zur Gesundheitsvorsorge im preußischen Heer. [archive.org]
  • Mai: Aufgrund einer Änderung der militärmedizinischen Dienstgrade wird Mori als Militärarzt zweiter Klasse eingestuft.
  • Er unterweist Militärärzte und Pflegekräfte, welche die private medizinische Ausbildungsstätte Saisei Gakusha (“Schule zur Rettung des Lebens”) absolviert haben, in militärmedizinischen Fragen. Als Lehrbuch dient das dreibändige Handbuch der Militär-Gesundheitspflege von Roth und Lex (Berlin: 1872–77). [Bayerische Staatsbibliothek digital: Bd.1, Bd. 2, Bd. 3]

1884

16. Februar 1884: Heeresminister Ōyama Iwao und Generalarzt Hashimoto Tsunatsune brechen zur Begutachten des Militärwesens nach Europa auf.
  • Januar: Für das Militärmedizinische Hauptquartier legt Mori eine Übersicht von Vorschriften aus der einschlägigen preußischen Literatur zur farblichen Gestaltung von Krankenzimmern vor.
  • Juni: Das Heeresministerium stellt Mori zum Studium in Europa ab und befreit ihn von anderen amtlichen Pflichten.
  • August: Mori verlässt Tokyo am 23. und schifft sich am folgenden Tag in Yokohama ein. Über die Erfahrungen der folgenden Wochen berichtet das “Tagebuch der Überfahrt in den Westen” (Kōsei nikki).
  • August bis Oktober: Seereise über Hongkong, Saigon, Singapur, Colombo, Aden und Suez nach Marseille.
  • Oktober: Ankunft in Marseille am 7. Am folgenden Tag Weiterreise über Paris nach Berlin.

Quellen

  • Bowring, Richard John: Mori Ōgai and the Modernization of Japanese Culture, Cambridge et al.: Cambridge University Press 1979.
  • Kobori Kei’ichirō: Mori Ōgai: Nihon wa mada fushinchū da (Mori Ōgai: Japan ist noch im Umbau), Minerva Shobō 2013.
  • “Nenpu” (Chronik), Ōgai zenshū, vol. 38, Iwanami Shoten 1975: 545–58.
  • Rimer, J. Thomas: Mori Ōgai, Boston: Twayne Publishers 1975.
  • Schamoni, Wolfgang: Mori Ōgai: Vom Münchener Medizinstudenten zum klassischen Autor der modernen japanischen Literatur, München: Bayerische Staatsbibliothek 1987.
  • Yamasaki Kuninori: Hyōden Mori Ōgai (Mori Ōgai. Eine kritische Biographie), Taishūkan Shoten 2007.
Zitierhinweis – Harald Salomon: “Mori Rintarō, alias Ōgai (1862–1922). Studien und frühe Berufsjahre”, Digitales Ogai Portal, hg. v. Harald Salomon. Mori-Ōgai-Gedenkstätte der Humboldt-Universität zu Berlin. 15. Dezember 2020. URL: https://www.ogai.hu-berlin.de/biographie-studien.html