Mori Ōgai im Licht der Gegenwart

Folgen 19–24 des Feature in der Tageszeitung Mainichi (Okt. 2020–März 2021)

© Mori-Ōgai-Gedenkmuseum, Tokyo, und Mainichi shinbun


Der Musikkritiker und Philosphiehistoriker Katayama Morihide beschäftigt sich in seinem Beitrag zur Mainichi-Artikelserie mit Moris Beziehung zur westlichen Musik; genauer seiner Einstellung zur Oper, die Katayama als widersprüchlich wahrnimmt. Er zitiert einen Teil der Klavierszene aus der Erzählung Der Briefbote (Fumizukai, 1891) und nennt sie eine der ersten Beschreibungen westlicher Musik in der japanischen Literatur. Darin setzt sich die weibliche Hauptfigur Ida spontan ans Piano und fängt an zu spielen. Die Musik, welche ihre aufgewühlte Gefühlslage ausdrückt, wird wie folgt charakterisiert:

Das Musikstück hatte nun seinen Höhepunkt erreicht: Die mannigfaltigen, im Inneren des Instruments verborgenen Saiten-Dämonen hatten ihre grenzenlose Verbitterung einzeln beklagt und hoben nun alle gemeinsam laut zu schluchzen an [...]

Zitiert nach Ōgai zenshū, Bd. 2, 1987, S.34. Übers. Nora Bartels

Katayama vermutet bei Mori eine große Liebe zur klassischen Musik – immerhin hält er für gesichert, dass der junge Regierungsstipendiat während seiner Zeit in Deutschland mehrere Dutzend Opernaufführungen besucht habe. In einer späteren Debatte mit dem Schriftsteller und Kritiker Tsubouchi Shōyō positionierte sich Mori jedoch gegen eine Synthese aus Sprechtheater, Musik und Tanz – er bevorzugte die Trennung dieser Gattungen. Der Ursprung dieser Neigung, so vermutet Katayama, liege in seiner konfuzianisch geprägten Erziehung begründet, die Musik in ihrer Eigenschaft, die Vernunft durch Emotionen vernebeln zu können, als potentiell gefährlich einstuft. Dass der Literat gerade ein Libretto von Gluck – nämlich Orfeo ed Euridice (Orufeo to Euridiiche, 1914) – übersetzte, sieht Katayama als folgerichtig an, da der deutsche Komponist auf Logik und stringente Erzählstruktur Wert legte und übermäßige Emotionalität in den Gesangspassagen vermied. Damit nahm Mori die Positionen Brechts oder Hindemiths vorweg, welche Einfühlung im Theater bzw. in der Oper problematisieren.

Wie bereits Takahashi Utsuno in der 8. Folge der Mainichi-Serie stellt auch der Lyriker Sakai Shūichi die Gedichte Moris in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Während sich Takahashi der großen Bandbreite der Arbeiten widmete, rückt Sakai das Augenmerk auf die Sammlung Meine Hundert Tanka (Waga Hyakushu, 1909). Sie entstand in Sitzungen des „Dichterkreises Villa Meeresblick“ (Kanchōrō kakai) – einer Gruppe literarisch Interessierter, die sich monatlich Tokyoter Anwesen der Familie Mori traf. Sakai zeigt anhand von drei Beispielen die Spannweite der Stimmungen und Themen in Meine Hundert Tanka. Das Anfangsgedicht interpretiert er als einen Ausdruck der Spannung bei der Konfrontation westlicher und japanischer Kultur:

Gebeine eines gescheckten Pferdes
Jäh hineingeworfen
In den Kreis der Götter des Olympos

Zitiert nach Ōgai zenshū, Bd. 19, 1971, S.447. Übers. Nora Bartels

In der Anspielung auf den Pferdeleichnam, den Susanoo, der mythische Gott des Windes und des Meeres, als Provokation vor seine Schwester, die Sonnengottheit Amaterasu, warf, vereint der Schriftsteller die klassisch griechisch-europäische mit der japanischen Götterwelt. Sakai sieht es als symbolische Darstellung auch von Moris eigenen Erfahrungen in Deutschland, beispielsweise bei der öffentlichen Debatte mit Edmund Naumann zu Japans Übergang in die Moderne. Im dreizehn Jahre später erschienenen Band Fünfzig Kurzgedichte aus Nara (Nara gojū shu, 1922), in dem Mori – nun der Generaldirektor der Kaiserlichen Museen und Bibliotheken – Eindrücke aus seinen Besichtigungsreisen der kaiserlichen Kunstschätze in Nara niederschrieb, behandele er, so Sakai, vor allem innerjapanische Widersprüche und Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft. Diese Gedichtsammlung gilt als letztes vollendetes Werk.

Der Schriftsteller Takahashi Gen’ichirō, in dessen Roman Aufstieg und Fall der japanischen Literatur (Nihon bungaku seisuishi, 2004) auch Mori Ōgai vorkommt, berichtet von seiner sich wandelnden Beziehung zu dessen Werken. Sie begann mit Takahashis literarischen Anfängen, als die Gesamtausgabe des Verlags Chikuma seine Büchersammlung einging. Während ihn zunächst die historischen Erzählungen und später die Übersetzungen fesselten, las er für seinen eigenen Roman noch einmal alle Werke von vorn. Dieses Mal beeindruckten ihn die Texte, die um das Jahr 1910 spielten, insbesondere die Kurzgeschichten um die Figur Kimura: So spielerisch leicht (Asobi, 1910) und Kantine (Shokudō, 1910). Takahashi setzt in seiner Interpretation Kimura – einen Schriftsteller, der für ein Regierungsbüro arbeitet – mit Mori gleich und vermutet, dass hier dessen wahre Gefühle zum Ausdruck kommen. So beispielsweise, wenn Kimura sich belästigt fühlt von unqualifizierten Kommentaren der Kollegen zu seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Der Titel der Erzählung Asobi, der auch mit Spiel[e] übersetzt werden kann, bezieht sich auf Kimuras Haltung zu seinen beruflichen Aufgaben und privaten Rollen. Seine Arbeit im Amt erledigt er auf eine Weise, die einem missgünstig gestimmten Kollegen wie Spielerei vorkommt. Auch seine Frau hat sich von ihm getrennt, da sie sich nicht ernst genug genommen fühlte. Und schließlich würde Kimuras Traum, sich ganz dem Schreiben widmen zu können, ihn in eine Stimmung versetzen „wie ein Kind, dass seinem Lieblingsspiel nachgeht“. Zuletzt deutet Takahashi die Verbindung der zwei Texte zur „Hochverrats-Affäre“ (Taigyaku jiken, 1910) an, einem Attentatsversuch, der dem Meiji-Kaiser galt und zur Verhaftung von 26 Personen führte. Im folgenden Jahr wurden zwölf der Angeklagten hingerichtet, wenngleich nur etwa die Hälfte nachweislich in die Pläne involviert gewesen waren. Der Vorfall wurde von der Regierung als Anlass genutzt, die öffentliche Meinung in noch stärkerem Maße zu kontrollieren.

Die Autorin Tōda Junko beschäftigt sich mit Verfilmungen der Erzählungen Moris. Neben Die Tänzerin (Maihime, 1890; Verfilmung 1988) und Wildgans (Gan, 1913; Verfilmung 1953) ist vor allem die bei den Festspielen in Venedig mit dem silbernen Löwen ausgezeichnete Leinwand-Version von Sansho Dayu – Ein Leben ohne Freiheit (Sanshō Dayū, 1915; Verfilmung 1954) Cineasten ein Begriff. In den Vordergrund stellt Tōda jedoch zwei Versionen des historischen Romans Das Haus Abe (Abe ichizoku, 1913): 1938 vom Regisseur Kumagai Hisatora als Spielfilm, 1993 von Fukasaku Kinji als TV-Serie. Sie arbeitet nicht nur Unterschiede zwischen den beiden Adaptionen heraus, sondern interpretiert auch deren Abweichungen vom Original. So wertet sie die Jagd des Falken in der Version von Kumagai als einen Ausdruck des Widerstands gegen das Gesetz zur Generalmobilmachung der Nation (1938), das dem japanischen Staat weitreichenden Eingriff in alle Bereiche des Lebens gestattete. Fukasaku lässt 1993 den Falken, statt wie in der Erzählung zu ertrinken, im Feuer verbrennen, und nutzt die Zeitlupe, um dabei eindrucksvoll die Panik der Beobachtenden zu zeigen. Der Vergleich der drei Fassungen miteinander dient Tōda als überzeugendes Werkzeug, ihre Interpretationen zu untermauern.

In einer Zeit, in der militärische Konflikte stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt sind, untersucht der Historiker Narita Ryūichi einige Texte Moris aus dem Blickwinkel seiner Kriegserfahrung: Im Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg (1894–95) und im Russisch-Japanischen Krieg (1904–05) war Mori als leitender Sanitätsoffizier in der Mandschurei, in Korea, China und Taiwan aktiv. Als Arzt nahm er zwar nicht selbst an Gefechten teil, doch er befand sich stets in deren unmittelbarer Nähe. Seine Erlebnisse schrieb er sowohl in Form offizieller Berichterstattung als auch in Tagebüchern und Gedichten nieder. So entstanden das Fronteinsatz-Tagebuch (Sosei-Nikki, postum veröffentlicht) während des Chinesisch-Japanischen Krieges sowie das Lieder-Tagebuch (Uta nikki, 1907), eine Sammlung aus selbst verfassten, übersetzten, kurzen wie langen Gedichten im Russisch-Japanischen Krieg. Narita stellt fest, dass das Lieder-Tagebuch durch seine Komplexität die Literaturkritik oft vor Rätsel stelle und weist auf drei inhaltliche Besonderheiten hin. Zum einen fänden sich keine kriegsverherrlichenden Passagen darin. Im Gegenteil handele es u.a. von Tod und Trauer. Weiter zeige Mori die Dynamik des Kriegs auf und wende sich General Nogi wie auch einfachen Fußsoldaten namentlich zu. Und drittens beschäftige er sich mit dem Leid der chinesischen Bevölkerung, beispielsweise im Gedicht „Mohn, Menschenkot“ (Keshi, hitokuso), das schonungslos die Vergewaltigung einer jungen Frau beschreibt. Auch in späteren Werken behandelt der Literat Kriegsgeschehen und Auswirkungen, so etwa in der Erzählung „Mäusesteig“ (Nezumizaka, 1912). Narita nennt diese nach dem Lieder-Tagebuch erschienenen Texte – neben den privaten Briefen und Gedichten sowie den offiziellen Berichten – die „dritte Ebene“, die den Versuch offenbart, sich dem Thema „Krieg“ objektiv zu nähern.

Mori Minako, Essayistin und Urenkelin von Mori Ōgai, erlaubt einen persönlichen Einblick in ihr Leben und ihre Erinnerungen an die Familie. Als Siebenjährige enthüllte die Enkelin von Mori Otto, dem ersten Sohn des berühmten Vorfahren, im Beisein ihrer Familie und enger Freunde 1954 die restaurierte Marmorbüste des Urgroßvaters auf dem Grundstück der ehemaligen Villa Meeresblick. Erst später sei ihr bewusst geworden, welche Rolle ihr Vorfahre in der japanischen Öffentlichkeit spielte, und in der Pubertät fühlte sie sich dadurch von ihm überschattet. Sie berichtet, dass sie eine Identitätskrise durchlitt und nicht wusste, wie sie ihren eigenen Weg finden könne. Ihr half einerseits die Beschäftigung mit einem Buch des Psychiaters Morita Masatake aus dem Nachlass Mori Ottos, andererseits die Erkenntnis, dass auch ihr berühmter Urgroßvater nicht unfehlbar war. Als Beispiel führt die Essayistin die wissenschaftliche Debatte um die Ursache der Beriberi-Krankheit an. Mori vertrat als Vorsitzender der Sonderkommission, welche das Heeresministerium eigens eingerichtet hatte, die Position, dass Beriberi auf einen Krankheitserreger zurückzuführen sei. Tatsächlich geht die einst verbreitete Nerven- und Muskelerkrankung jedoch auf Vitaminmangel zurück, der insbesondere durch die Ernährung mit weißem (geschälten) Reis als Grundnahrungsmittel entsteht. Obgleich die Ursache erst nach seinem Tod nachgewiesen werden konnte, gilt Moris Haltung in der Beriberi-Debatte als folgenschwerer Irrtum.

Zitierhinweis - Nora Bartels: “Mori Ōgai im Licht der Gegenwart. Folgen 19–24 des Feature der Tages­zeitung Mainichi (Oktober 2020 - März 2021)”, Digitales Ogai Portal, hg. v. Harald Salomon. Mori-Ōgai-Gedenkstätte der Humboldt-Universität zu Berlin. 26. November 2024. https://www.ogai.hu-berlin.de/bildung-mainichi_4.html

Übersicht der Artikel Oktober 2020 – März 2021

(19) Katayama Morihide 片山杜秀 [Musikkritiker und Philosophiehistoriker]
“Ongaku e no ganryoku: Aisuru opera to hihanteki seishin” 音楽への眼力: 愛するオペラと批判的精神 (Scharfsinnige Musikbetrachtungen: Geliebte Oper und kritischer Geist), Mainichi shinbun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 11. Oktober 2020.
Behandelte Werke: Der Bote (Fumizukai, 1890), Orpheus und Eurydike (Orufeo to Euridiiche, 1914).

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(20) Sakai Shūichi坂井修一 [Lyriker]
“Kajin toshite no ashiato: ‘Jiritsu-tekina ko’ mosaku shi tsuzuke” 歌人としての足跡:「自律的な個」模索し続け (Die Spuren des Dichters: Auf der Suche nach einem ‘unabhängigen Individuum’), Mainichi shinbun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 8. November 2020.
Behandelte Werke: Meine hundert Tanka (Waga hyakushu, 1909), Fünfzig Kurzgedichte aus Nara (Nara gojū shu, 1922).

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(21) Takahashi Genichirō 高橋源一郎 [Schriftsteller]
“‘Gendaimono’ no omoshiromi: Mizukara no hon’ne, sekirara ni” 「現代もの」の面白み:自らの本音、赤裸々に (Der Reiz der ‘Gegenwartserzählungen’: Das wahre Ich, völlig ungeschminkt), Mainichi shinbun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 13. Dezember 2020.
Behandelte Werke: Spiel (Asobi, 1910).

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(22) Tōda Junko 遠田潤子 [Schriftstellerin]
“Aratana kaishaku ni hikare: Eizōka sareta meisaku tachi” 新たな解釈に惹かれ:映像化された名作たち (Fasziniert von [neuen] Wegen der Interpretation: Berühmte Werke in Verfilmungen), Mainichi shinbun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 10. Januar 2021
Behandelte Werke: Das Haus Abe (Abe ichizoku, 1913)

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(23) Narita Ryūichi 成田龍一 [Professor em. für japanische Geschichte]
“Gun’i toshite omomuita senchi: Tayōna mokusen de, shi ya bōryoku shirusu” 軍医として赴いた戦地: 多様な目線で、死や暴力記す (Als Militärarzt im Feld: Tod und Gewalt, erzählt aus verschiedenen Blickwinkeln), Mainichi shinbun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 14. Februar 2021.
Behandelte Werke: Liedertagebuch (Uta nikki, 1907).

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(24) Mori Minako 森美奈子 [Essayistin]
“Idaina sōsofu no kage: Sedai koemananda mirai ya ikikata” 偉大な曽祖父の影:世代超え学んだ未来や生き方 (Im Schatten des bedeutenden Urgroßvaters: Generationsübergreifende, lehrreiche Zukunfts[perpektiven] und Lebensweisen), Mainichi shinbun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 14. März 2021