Mori Ōgai im Licht der Gegenwart

Folgen 13–18 des Feature in der Tageszeitung Mainichi (April 2020–Sept. 2020)

© Mori-Ōgai-Gedenkmuseum, Tokyo, und Mainichi shinbun


Das dritte Halbjahr der Serie Mori Ōgai im Licht der Gegenwart fällt in die Hochphase der Corona-Krise. Immer wieder und so auch jetzt, erläutert der für historische Literatur bekannte Schriftsteller Kadoi Yoshinobu, verfallen Gesellschaften in einen Zustand der Panik. In solchen Zeiten sollten wir Ōgais Bücher wieder zur Hand nehmen. Denn sein Stil vermittelt vollendete Ruhe und überlegte Zurückhaltung. Selbst als die nationalen Emotionen hochschlugen, nachdem der Kriegsheld Nogi und seine Gemahlin 1912 dem langjährigen Kaiser Meiji in den Tod gefolgt waren, blieb der Fünfzigjährige distanziert und begann historische Erzählungen zu schreiben. Das Testament des Okitsu Yagoemon (Okitsu Yagoemon no isho, 1912) und Das Haus Abe (Abe ichizoku, 1913) loteten die Psychologie des “vormodernen” Folgetodes (junshi) aus und übten subtil Kritik an der irrationalen Verehrung von Loyalität und Kühnheit während des Übergangs von der Meiji- zur Taishō-Zeit. Gewissermaßen als “Arzt der Nation” suchte er die emotionalen Wogen zu glätten.

Ōgais Haltung als Erzähler thematisiert ebenfalls Machida Kō, ehemals Punkmusiker und nun seit mehr als zwanzig Jahren als Schriftsteller aktiv. Auf Einladung einer Zeitschrift begab er sich 2017 auf eine Reise nach Kokura – um kulinarisch Interessantes in der südjapanischen Stadt zu entdecken, aber vor allem auch um in der lokalen Erinnerungslandschaft nach Spuren bedeutender Literaten wie Hino Ashihei, Matsu­moto Seichō und Sugita Hisajo zu suchen. Bekanntlich wirkte Ōgai von Juni 1899 bis März 1902 als leitender Offizier der Sanitätsabteilung der 12. Division des japanischen Heeres in Kokura. Das gleichnamige Tagebuch und die drei Erzählungen, welche einige Jahre später (1909–15) seinen Alltag in dieser Zeit aufgriffen, hatte Machida bereits zur Vorbereitung seiner Reise gelesen. Vor Ort stellt er Überlegungen an, wie die verwirren­de Vielfalt neuer Eindrücke zum Ausgangspunkt literarischen Schaffens werden kann. So mag es auch Ōgai ergangen sein. Umso bemerkenswerter ist die charakteristische Distanz, mit der er seine Beobachtungen schildert.

Im Juni-Beitrag arbeitet die Kuratorin Kawanishi Yuri heraus, wie Moris Wirken als Schriftsteller und Regierungsbeamter mit der Welt der bildenden Künste verflochten war. Tatsächlich lehrte er nicht nur künstlerische Anatomie, Ästhetik und Geschichte der westlichen Kunst an renommierten Hochschulen. Ōgai war auch früh und leiden­schaftlich als Kunstkritiker und Förderer westlicher Malerei aktiv. Großen Einfluss übte dabei wohl sein Freund Harada Naojirō aus, den er während seines Aufenthalts in München kennengelernt hatte. Nicht umsonst diente der Maler als Vorbild für den Protagonisten in Wellenschaum (Utakata no ki, 1890), eine der drei “deutschen Erzählungen”. Auch als die westlichen Künste mit dem seit den späten 1880er Jahren aufflammenden Nationalismus zunehmend abgelehnt wurden, stemmte Ōgai sich gegen die Entwicklung. Vor allem in der späteren Phase seines Lebens übernahm er wichtige Funktionen in der staatlichen Kunstförderung. Kawanishi erwähnt hier die Tätigkeit als Juror für die jährliche Kunstausstellung, welche das Kultusministerium seit 1907 aus­richtete. U.a. die Erzählung Gnade des Himmels (Tenchō, 1915) veranschaulicht, wie es der allseits als Autorität Anerkannte verstand, junge Künstler zu ermutigen. Seine besonnene Aufgeschlossenheit ist es denn auch, die der Autorin als besonders relevant für Ausstellungswesen und Kunstkritik der Gegenwart erscheint.

Arashiyama Kōzaburō, Schriftsteller und Publizist, beleuchtet eine persönliche Seite Moris: seine Essgewohnheiten. Das Studium des Hygienewesens wie auch die Forschung im Labor des Bakteriologen Robert Koch müssen ihn stark geprägt haben. Ungekocht nahm Ōgai weder Wasser noch Früchte zu sich. Gegen Milch hegte er eine regelrechte Abneigung; Mayonnaise und dergleichen rührte er nicht an. Auch auf Makrele in Miso und eingelegtes Gemüse, die Alltagskost im Studentenwohnheim bzw. im Feld, verzichtete er im späteren Leben gerne. Zwar war er generell anspruchslos. Er schätze Stangen- und Feldbohnen und aß mittags selbst im Kaiserlichen Hofministerium Mutters Reisklößchen oder geröstete Süßkartoffeln, die ihm als „steril und nahrhaft“ galten. Doch mit den Kindern besuchte er häufig die feinen westlichen Cafés und Restaurants auf der Ginza oder in Ueno. In den Memoiren der Familienmitglieder finden sich Hinweise auf Ōgais Vorliebe für Süßspeisen. Die jüngere Tochter Annu erinnert sich:

Vater liebte es zum Reis etwas Süßes zu essen [...]. Gerne legte er einen mit süßem Bohnenmus gefüllten gedämpften Hefekloß (manjū) auf den Reis und goss grünen Tee darüber, um [die Speisen] darauf [genüsslich] zu verzehren.

Mori Anne: Erinnerungen (Omoide) aus Vater an seinem Lebensabend (Ban’nen no chichi, 1936). Übers. Turan Tashqin

Zur Familienlegende wurde eine Zusammenkunft des väterlichen Dichterkreises in der „Villa Meerblick“, zu der man – sehr zur Erheiterung der geladenen Poeten – deutsche Speisen reichte. Bei der Zubereitung hatte man ein Kochbuch des Reclam-Verlags konsultiert, das Mori noch in Deutschland erworben hatte.

Nakazawa Kei – ihres Zeichens Autorin und Literaturwissenschaftlerin – wendet sich einigen kurzen, doch eindrucksvollen Erzählungen aus den Jahren 1909 und 1910 zu, mit denen Mori nach fast zwanzigjähriger Schaffenspause erstmals wieder als Schrift­steller an die Öffentlichkeit trat. Der Autor des Maihime-Textes war durch seine Erfah­rungen als junger Mensch in Europa, aber auch durch die langjährige Übersetzung von Andersens Improvisator mit der Idee der romantischen Liebe wohl vertraut. In Fushinchū (Im Umbau, 1910) beschreibt er sich jedoch als abgeklärten Beamten im fortgeschrittenen Alter. Auf die sentimentalen Worte einer alten Liebe, welche er im Ausland kennengelernt hat, reagiert er schroff. Denn ganz Japan sei – wie das „Haus der vitalen Ernährung“ (Seiyōken), der Ort der Zusammenkunft – vom Projekt der Renovierung in Anspruch genommen. Ähnlich lakonische Bilder des Übergangs in die Moderne zeichnen Die Große Entdeckung (Daihakken, 1909) und Dämonen austreiben (Tsuina, 1909). Sie erinnern Nakazawa Kei an das nach wie vor im Umbau befindliche Tokyo. Am Vorabend der Olympischen Sommerspiele 2021 wandeln sich ihrem Eindruck nach ehemals vertraute Viertel rapide bis zur Unkenntlichkeit.

Im September-Beitrag nähert sich die Schriftstellerin Tawada Yōko der Literatur Ōgais aus dem Blickwinkel der Transnationalität. In dieser Hinsicht, so die in japanischer und deutscher Sprache veröffentlichende Autorin, kann das Frühwerk Maihime nicht vollkommen überzeugen. Es sei die Kraft der Liebe, welche die kulturelle und soziale Distanz zwischen einem japanischen Regierungsstipendiaten und einer Berliner Tänzerin vorübergehend verringere. Als Schriftsteller zumindest verharrte der junge Mori jedoch am Ufer der japanischen Inseln, auch wenn er sich als Publizist bereits – seinem nom de plum Ōgai (“Möwenfern”) gemäß – frei wie eine Möwe zwischen den Weltmeeren bewegte. Ein Protagonist, der sich für die schwangere Geliebte in Berlin und gegen die Familie in Japan bzw. die berufliche Karriere entscheidet, überstieg wohl noch seine Vorstellungskraft wie auch die seines zeitgenössischen Lesepublikums.

Auf dem Höhepunkt seines literarischen Schaffens, mehr als zwanzig Jahre später, be­weg­te sich Ōgai in Erzählungen wie Illusionen (Mōzō, 1911) und Casuistica (Kazuisu­chika, 1911) souverän und gelassen zwischen den Kulturen. In Casuistica blickt ein europäisch ausgebildeter Mediziner auf seine Aushilfstätigkeit in der Praxis seines Vaters zurück. Letzterer lässt – als traditioneller japanischer Arzt – ein entwickeltes Hygienebewusstsein vermissen, doch seine Zuwendung zu den Patienten und seine diagnostischen Fähigkeiten fordern dem Sohn Respekt ab.

Im Sinne der Überschreitung von Grenzen sticht für Tawada Yōko der 1909 erschienene Roman Vita Sexualis (Wita sekusuarisu, 1909) hervor, der wenig später ungerecht­fertigter­weise von der Zensur verboten wurde. Hier versammelt der Protagonist – einem Kulturanthropologen gleich – von Ōgais Biographie inspirierte „Erinnerungen“ aus seiner Kindheit und Jugend in der ausgehenden Edo- und der frühen Meiji-Zeit. Sexuelle Praktiken und ihre Bezeichnungen diskutiert er aus der Perspektive eines Mediziners, der die Schriften Freuds und Hirschfelds eingehend studiert hat – für Tawada ein “Meisterwerk der transnationalen Literatur”.

Zitierhinweis - Turan Tashqin und Harald Salomon: “Mori Ōgai im Licht der Gegenwart. Folgen 13–18 des Feature der Tages­zeitung Mainichi (April 2020 - September 2020)”, Digitales Ogai Portal, hg. v. Harald Salomon. Mori-Ōgai-Gedenkstätte der Humboldt-Universität zu Berlin. 28. Dezember 2022. https://www.ogai.hu-berlin.de/bildung-mainichi_3.html

Übersicht der Artikel April 2020 – September 2020

(13) Kadoi Yoshinobu 門井慶喜 [Schriftsteller]
“Reisei to jisei no kiwami: Kokumin-teki hisuterī no naka de” 冷静と自制のきわみ: 国民的ヒステリーの中で (Vollendete Ruhe und Zurückhaltung in Zeiten nationaler Hysterie), Mainichi shinbun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 12. April 2020.
Behandelte Werke: Das Testament des Okitsu Yagoemon (Okitsu Yagoemon no isho, 1912); Das Haus Abe (Abe ichizoku, 1913).

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(14) Machida Kō 町田康 [Schriftsteller]
“Manazashi wa jidai o koete: ‘Wakuran’ no soto kara” まなざしは時代を超えて:「惑乱」の外から (Ein Blick, der die Zeiten überschreitet: Abseits der “Verwirrung”), Mainichi shinbun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 10. Mai 2020.
Behandelte Werke: “Kokura-Trilogie” (Kokura sanbusaku), d.h. Hühner (Niwatori, 1909), Ein Junggeselle  (Dokushin, 1910) und Zwei Freunde (Futari no tomo, 1915).

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(15) Kawanishi Yuri 川西由里 [Kuratorin, Iwami Kunstmuseum, Präfektur Shimane]
“Bijutsu-kai ni nokoshita ashiato: Ippo shirizoki reisei ni mitsume” 美術界に残した足跡: 一歩退き冷静に見つめ (In der Kunstwelt hinterlassene Spuren: Mit Abstand und ruhi­gem Blick), Mainichi shinbun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 14. Juni 2020.
Behandelte Werke: Gnade des Himmels (Tenchō, 1915).

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(16) Arashiyama Kōzaburō 嵐山光三郎 [Schriftsteller]
“Tabemono no konomi: Kioku ni nokoru kodawari no aji” 食べ物の好み: 記憶に残るこだわりの味 (Essens-Präferenzen: Ein unvergesslicher, feiner Geschmack), Mainichi shin­bun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 12. Juli 2020.
Behandelte Werke: Mori Mari: Vaters Hut (Chichi no bōshi, 1957); Mori Anne: Vater an seinem Lebensabend (Bannen no chichi, 1961).

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(17) Nakazawa Kei 中沢けい [Autorin und Literaturwissenschaftlerin]
“Romansu no rikaisha: Ōseina sōsaku mae no buaisō-sa” ロマンスの理解者: 旺盛な創作前の無愛想さ (Kenner der romantischen Liebe: Die Abgeklärtheit vor der intensiven Schaffensphase), Mainichi shinbun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 9. August 2020.
Behandelte Werke: Die große Entdeckung (Dai hakken, 1909), Dämonen austreiben (Tsuina, 1909), Im Umbau (Fushinchū, 1910).

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(18) Tawada Yōko 多和田葉子 [Schriftstellerin]
“Ekkyō suru bungaku: Bunka jinruigakuteki na shiten mo” 越境する文学: 文化人類学的な視点も (Literatur, die Grenzen überschreitet: auch vom kulturanthropologischen Standpunkt aus), Mainichi shinbun 毎日新聞 (Mainichi-Tageszeitung), 13. September 2020.